Direkt zum Hauptbereich

Denken unter 150

184 Puls. Die Zone, in der ich nur noch renne. Kein Gedanke, kein denken -- nur kämpfen. Ich laufe gegen meinen Körper an. Längst bin ich im anaeroben Bereich. Ich kann nicht mehr soviel Sauerstoff in meine Lungen pumpen, wie ihn mein Körper benötigt. Ich spüre regelrecht, wie meine Zellen auf Hochtouren laufend die letzten Energien mobilisieren. Alles schmerzt. Warum tue ich mir diesen Berg eigentlich an? Gleich ist Schluss. Noch 23 Sekunden, die muss ich noch durchhalten, irgendwie.

"Wie lautet die Binärzahl von 197?"

Wie bitte? Die Aufgabe hämmert in meinem Kopf. Noch 18 Sekunden. Ich kann jetzt nicht rechnen. Ich schaue auf die Uhr. Noch 16 Sekunden den Körper durch die Qual treiben. Mein Puls fällt ab. Ich kann das Tempo nicht mehr halten. 197 ist kleiner als 256 und größer als 128. Mehr bekomme ich reflexartig nicht hin. Kämpfen steht im Vordergrund. Bei dem Puls kann ich keinen klaren Gedanken fassen. Wie auch? Ich versuche gerade meinen Körper zu bezwingen, das Limit noch für einen Moment aufrecht zu erhalten. Noch 6 Sekunden. Wie langsam die Zeit vergehen kann. Nicht aufgeben. Noch 4 Sekunden. Ja, gleich -- in meinem Kopf tobt der Wahnsinn. Ich kämpfe mit jedem Gedanken gegen all die Körpersignale an, die nicht mehr in 2 Sekunden, sondern sofort aufhören wollen. Da, 0 Sekunden. Erlösung.

Stoppuhr an!

Wie lange dauert es, bis ich einen "Denkpuls" erreicht habe? Bis sich mein Körper soweit von der Belastung erholt hat, dass mein Hirn wieder bereit für Input ist? Dass es bereit ist für eine Aufgabe? Dass es die Aufgabe lösen kann?

Im Moment geht gar nichts. Ich atme tief und heftig. Spucke auf den Asphalt. Luft. Luft. Ich will nur atmen. In meinen Ohren, überall hämmert der Puls. Aber er fällt. Jetzt ist er unter 176. Denken? Nein. Geht nicht. Ich gehe. Die Schmerzen lassen nach. Der ganze Körper lechzt nach Erholung.

Ab welchem Puls kann ich die Aufgabe lösen? Wie lautet die Binärzahl von 197?

Erste Denkreflexe melden sich. 197 ist größer als 128, hatten wir schon, also haben wir "ganz links" eine 1. Ungerade Zahl, also "ganz rechts" eine 1. Sonst? Achja, 8 Bits reichen.

Mehr geht nicht. Mein Puls fällt. So langsam regelt sich die Atmung wieder ein. 160 Puls. Erste Gedanken raten mir zu einem systematischen Vorgehen. Nächste Bitstelle? 64. Was ergibt 128 plus 64. Es fühlt sich nach weniger als 197 an. Wieviel weniger? Eine einfache Addition. Im Kopf -- derzeit unmöglich. Ich brauche noch etwas Pause.

Ich wage einen neuen Versuch. Puls knapp über 150. 128 plus 64 macht etwas mehr als 180, fehlen noch 8 plus 4, also 12. 192, das könnte sein. Ich habe noch kein Vertrauen in meine Denke. Vieles ist mechanisch abgeleitet. Eine echte Kontrolle im Hirn fehlt. Dafür bin ich noch zu sehr aus der Puste.

Ich spekuliere weiter. 128 plus 64 macht 192. Die 197 war gegeben, bleiben 5 übrig. Eine 1 hatte ich schon für das Ungerade-sein spendiert. Bleiben noch 4 übrig. Ok. Bitmuster "ganz rechts" 101, Bitmuster "ganz link" 11. Ich komme etwas zur Ruhe. Bin kurz vor 140 Puls. Jetzt weiß ich's. Ich habe fünf Bitstellen berechnet, noch drei weitere Bitstellen mit Null fehlen. Ergebnis: 11000101. Uff.

Hätte ich mir eine ernstere Aufgabe gestellt, ich bin mir sicher, erst in einem Bereich von 120 bis 130 Puls wäre eine Problemlösung möglich, mit ersten sinnvollen Gedanken um die 140 abwärts.

Angeregt zu diesem (virtuellen) Experiment hat mich das Buch von Josh Waitzkin: The Art of Learning -- An Inner Journey to Optimal Performance, Free Press, 2007. Er beschreibt in diesem Buch seine Lernerfahrungen als junges Schachgenie und später als Kampfsportler. In beiden Disziplinen ist bzw. war er sehr erfolgreich. Wem weder das Schachspiel noch der Kampfsport fremd sind, der wir seine Freude an diesem Buch haben und es vielleicht genauso wie ich verschlingen. Denn faszinierend sind seine Berichte und Einsichten schon, praktisch und anwendbar sind sie auch. So berichtet er unter anderem davon, wie wichtig der Zusammenhang zwischen körperlicher Fitness und der Fähigkeit zu sehr kurzer geistiger Erholung ist -- um Hochleistungen erbringen zu können, geistige ebenso wie sportliche. Es ist auch ein Weg, um bessere Klausuren schreiben und Prüfungen ablegen zu können.

Das ist die eine Buchempfehlung, die ich zu Weihnachten für Sie habe. Die andere ist ein Buch von John Medina: Brain Rules -- 12 Principles for Surviving and Thriving at Work, Home, and School, Pear Press, 2008. Und da erfahren wir, dass schon ein wenig körperliche Ertüchtigung die geistige Performanz boostet. Das ist Regel Nr. 1. Weitere elf Regeln verraten Ihnen noch mehr darüber, wie unser Gehirn tickert und wie wir gut mit ihm umgehen können. Selbst wenn Sie sich für das Buch nicht weiter interessieren, besuchen Sie die Webseite zu den Brain Rules -- es lohnt sich.

Beliebte Posts aus diesem Blog

Lidl und der Kassen-Bug

Es gibt Fehler, im Informatiker-Jargon "Bugs", die etwas anrühriges haben. Ich bat den Menschen an der Kasse bei Lidl um einen Moment Geduld und meine Kinder um Ruhe, um nicht den wunderbaren Moment zu verpassen, bei dem es passierte. Der Lidl-Mensch fluchte kurz auf -- und ich war entzückt! "Einen Moment, davon muss ich ein Foto machen!" Und dann machte ich noch eines. Ich bin heute extra für diesen Fehler zu Lidl gepilgert -- ich wollte es mit eigenen Augen sehen. Gestern hat mir ein Student (vielen Dank Herr Breyer) von diesem Fehler in einer EMail berichtet. Ein richtig schöner Fehler, ein Klassiker geradezu. Ein Fehler, den man selten zu Gesicht bekommt, so einer mit Museumswert. Dafür wäre ich sogar noch weiter gereist als bis zum nächsten Lidl. Der Fehler tritt auf, wenn Sie an der Kasse Waren im Wert von 0 Euro (Null Euro) bezahlen. Dann streikt das System. Die kurze Einkaufsliste dazu: Geben Sie zwei Pfandflaschen zurück und Lidl steht mit 50 Cent bei Ihne...

Syntax und Semantik

Was ist Syntax, was ist Semantik? Diese zwei Begriffe beschäftigen mich immer wieder, siehe zum Beispiel auch " Uniform Syntax " (23. Feb. 2007). Beide Begriffe spielen eine entscheidende Rolle bei jeder Art von maschinell-verarbeitbarer Sprache. Vom Dritten im Bunde, der Pragmatik, will ich an dieser Stelle ganz absehen. Die Syntax bezieht sich auf die Form und die Struktur von Zeichen in einer Sprache, ohne auf die Bedeutung der verwendeten Zeichen in den Formen und Strukturen einzugehen. Syntaktisch korrekte Ausdrücke werden auch als "wohlgeformt" ( well-formed ) bezeichnet. Die Semantik befasst sich mit der Bedeutung syntaktisch korrekter Zeichenfolgen einer Sprache. Im Zusammenhang mit Programmiersprachen bedeutet Semantik die Beschreibung des Verhaltens, das mit einer Interpretation (Auslegung) eines syntaktisch korrekten Ausdrucks verbunden ist. [Die obigen Begriffserläuterungen sind angelehnt an das Buch von Kenneth Slonneger und Barry L. Kurtz: Formal Syn...

Factor @ Heilbronn University

It was an experiment -- and it went much better than I had imagined: I used Factor (a concatenative programming language) as the subject of study in a project week at Heilbronn University in a course called "Software Engineering of Complex Systems" (SECS). Maybe we are the first university in the world, where concatenative languages in general and Factor in specific are used and studied. Factor is the most mature concatenative programming language around. Its creator, Slava Pestov, and some few developers have done an excellent job. Why concatenative programming? Why Factor? Over the years I experimented with a lot of different languages and approaches. I ran experiments using Python, Scheme and also Prolog in my course. It turned out that I found myself mainly teaching how to program in Python, Scheme or Prolog (which still is something valuable for the students) instead of covering my main issue of concern: mastering complexity. In another approach I used XML as a tool ...