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Was mich am Inverted Classroom bzw. Flipped Classroom nervt

Mich nervt die Begeisterung für den "Umgedrehten Unterricht" -- im Englischen als Inverted oder Flipped Classroom bezeichnet --, die durch die Hallen der Hochschulen und Universitäten geistert. Die Idee: Statt einer Vorlesung werden Videos produziert, die die Studierenden im Selbststudium konsumieren. So kann die eigentliche Vorlesungszeit in effektive Übungszeit gewandelt werden.

Der Ansatz ist simpel. Und er scheint einen Reiz auszuüben. Seit drei Jahren treffen sich in Marburg Schul- und Hochschullehrer(innen) aus dem deutschen Sprachraum auf der ICM-Konferenz. Man ist gewillt, sich von der Idee anstecken zu lassen und Erfahrungen auszutauschen. Es gibt einige sehr engagierte Produzenten von Lehrvideos, allen voran Jörn Loviscach, Hochschullehrer in Bielefeld. Er schneidet jede Vorlesung und jeden seiner Vorträge mit. Nicht ganz 2.000 Videos listet seine Homepage aktuell auf. Seinen Youtube-Kanal haben über 41.000 Menschen abonniert, fast 15,5 Millionen Aufrufe seiner Videos hat es bisher gegeben. Damit ist Loviscach so etwas wie der "Popstar" der deutschsprachigen ICM-Szene.

Dabei sind es nur Videos! Der Eifer eines Loviscach, seine Traute aber auch sein Können öffentlich dokumentierter Lehre ringen mir Bewunderung ab. Loviscach kann erklären, der Gute hat was auf dem Kasten. Er macht meinem Berufsstand alle Ehre. Allein, es sind und bleiben nur Videos.

Loviscach weiß es und eigentlich weiß es auch jeder andere (Hochschul)Lehrer und jede andere Hochschullehrerin: Videos können Freiräume schaffen, ohne Frage, aber die Lehre revolutionieren können sie nicht. Weil Lehre weit mehr ist als ein Buch, als ein Video, als ein Professor, als eine Vorlesung oder eine Übung. Da Lernen individuell ist, muss auch die Lehre irgendwann beim Individuum ankommen, dort etwas auslösen, Wissen verankern, Erfahrungen einfließen lassen. Als Produktionsfaktor muss Lehre zu einem gewissen Grad massentauglich sein, aber sie muss das Denken, Leben und Fühlen eines einzelnen Menschen erreichen und verändern. Das ist ein interessanter Spannungsbogen, und die Suche nach einem Brückenschlag bleibt eine stete Herausforderung. Die Lebenswelten der Menschen ändern sich permanent, digitale Technologien durchsetzen eindringlich den Alltag, Wertesysteme sind im Wandel, vieles ist im Fluss. Lehrer(innen) werden allein schon benötigt, um diesen steten Wandel und den Transformationsbedarf zu bedienen, wenn es um die Lehre und das Lernen geht. Es gibt immer wieder aufs Neue einen Bedarf an didaktischen und pädagogischen Konzepten, Ideen, Methoden, Techniken.

Ich will die Absurdität der "Umgedrehten Vorlesung" einmal auf die Spitze treiben. Nehmen wir ein Beispiel aus meinem Hochschulalltag an der Technischen Hochschule Mittelhessen (THM) in Gießen. Dieses Semester bietet meine Veranstaltung "Objektorientierte Programmierung" 270 Informatik-Studierenden im 1. Studiensemester eine Einführung in die Programmierung. Es ist nahe liegend, die Veranstaltung zu "flippen" oder zu "invertieren", nicht wahr? Bei der Masse muss man ja regelrecht Videos produzieren. Warum sollte man sich unten in den Hörsaal stellen und über das Mikro 270 Menschen beschallen? Interaktivität ist ohnehin kaum möglich in so einem Setting. Gut, produzieren wir also Lehrvideos für 14 Semesterwochen. Übungen mit 270 Studierenden im Hörsaal sind auch nicht sehr ergiebig. Also werden wir auch die Übungen auf digitalem Zelluloid bannen! Und dann? Ja dann haben wir im Grunde das Material für einen MOOC, einen Massive Open Online Course, beisammen. Die Videos sind schnell hochgeladen. Lehre im neuen Jahrtausend ist online. Weil es noch an der Interaktivität mangelt: Quizzes dazu, ein Diskussionsforum aufsetzen, fertig. Wir richten noch eine Sprechstunde ein, in der sich Studierende an Tutoren wenden können. Es ist anscheinend alles Menschenmögliche getan, damit jeder Student und jede Studentin am Ende programmieren kann. Dann gibt es am Ende des Semesters nur noch die Klausur.

Ich behaupte, das ist keine Lehre! Videos sind so wenig Lehre wie es Texte in Büchern sind. Es macht keinen Sinn, ein Kind vor ein Video zu setzen, damit es dann Fahrrad fahren oder Schwimmen lernt. Da braucht es das Vorbild, die Demonstration, auch einmal die führende Hand, das ermutigende Wort, Rückmeldung und ermunternden Applaus, wenn erste Erfolge zu sehen sind. Die Lehre im digitalen Jahrtausend soll gerne alles nutzen, was digital zur Hand ist. Videos sind ja nicht per se schlecht. Und eine gamifizierte Lerneinheit am Computer auch nicht. Wenn sich Lehre jedoch entfremdet von den Sorgen und Ängsten junger Menschen. Wenn sie beim Lernen alleine lässt, wenn sie um den Preis der Orientierung an Masse am Individuum vorbei zielt. Wenn sie keine Orientierung und vor allem: keinen Lehrer bzw. keine Lehrerin mehr hat. Dann, so glaube ich, findet keine Lehre statt.

Kommen wir auf mein Beispiel zurück. Was beschäftigt mich, wenn ich 270 Studierende an das Programmieren heranführen will? Das letzte, woran ich denke, sind Videos! Es beginnt mit einem Leitsatz: "Lernzentrierte Lehre". Und das heißt für mich: Vom Ende, von der Klausur her denken. Wie bekomme ich meine Studierenden fit für die Programmierung in Java, wobei ich das Prüfungsformat nicht ignorieren kann. Einen Studierenden interessiert, wie er oder sie die Klausur nicht nur bestehen, sondern es soll auch klar sein, wie man mit einer Bestnote abschließen kann. Und darauf muss ich vorbereiten. Es muss Übungen und Tests geben, die Training sind für die Klausur. (Außen vor lassen möchte ich die Diskussion, ob eine Klausur die adäquate Prüfungsform ist. Das ändert nichts an dem Leitsatz und der Implikation: Wie gestalte ich Lehre aus Sicht der Studierenden?)

Was mich beschäftigt:

* Wie kann ich meinen Studierenden das Programmieren vereinfachen? Visuelle Orientierung und Interaktivität bringen abstrakte Konzepte an die sichtbare Oberfläche und gewährleisten schnelles Feedback beim "Sprechen" mit dem Computer. Das sind gute Voraussetzungen für selbstbelohnendes Lernverhalten. Darum fiel meine Wahl auf Processing. Das ist ein wunderbar verpacktes Java. Und zu Processing gibt es sehr gute Lernvideos! (Und wer mag, findet da großartige Unterstützung beim Lernen.)

* Ein anderer Leitsatz: "Programmieren ist ein Handwerk". Darum programmieren die Studierenden mit mir im Hörsaal. Das wird zweimal in der Woche angeboten für jeweils rund 120 Studierende. Das ist wie gemeinsames Fahrrad fahren, Schwimmen gehen oder Schreinern. Hier muss keiner fürchten, etwas falsch zu machen. Man bespricht gemeinsam Programme, tippert sie, probiert aus. Spielräume sind geschaffen.

* Wie erreiche ich den einzelnen Studierenden? Es gibt sieben Termine, die sich eine Assistentin und ein Assistent zusammen mit vier Tutoren teilen. So erreichen wir eine Gruppengröße von fast 40 Studierenden. Es herrscht Teilnahmepflicht, es gibt Übungsaufgaben und Tests. Betreuung ist in der Nähe, Hilfestellung wird gegeben. Jetzt macht jeder seine eigenen Erfahrungen im Sprachwasser der Programmiersprache.

Noch gibt es eine Vorlesung. Und ich überlege in der Tat, Teile davon als Videos zu produzieren, um stattdessen eine weitere Übung anzubieten. Aber die Videos sind nur ein Baustein. Es soll in Zukunft auch ein Skript geben. Papier als Nachschlagemedium ist dem Video weit überlegen. Und noch wichtiger: Lernkarten!!! Lernkarten (am besten digital) und Quizzes sind so mit das Beste, was es gibt, um Wissen in die Hirne zu befördern.

Was mich am "Umgedrehten Unterricht" bzw. an der "Umgedrehten Lehre" nervt? Es ist kein Lernkonzept! Vielleicht sollte das die 4. ICM-Konferenz in Marburg thematisieren.

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