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Mit Prof. Handke im Gespräch: Vom Workbook zum Inverted Classroom

Aus dem Netz in Handkes Büro


Es gibt diese schönen Momente, da führen soziale Medien zu sozialen Begegnungen im echten Leben. Ich twittere im Nachgang zur #BiDiWe16, ein Dialog mit Jürgen Handke ergibt sich, er schickt mir seine Telefonnummer, ich rufe sofort durch, wir verabreden uns. Drei Tage nach der #BiDiWe16 sitze ich bei Handke im Büro, das gleichzeitig sein beachtlich ausgestattetes Aufnahmestudio beherbergt. Es ist Freitagmorgen, 9. September 2016. Jürgen Handke ist mir kein Fremder. Ich habe zwei seiner ICM-Konferenzen besucht, auf der #BiDiWe16 in Berlin hielt er die Keynote. Er hat für seine Lehre Preise erhalten, zuletzt 2015 den Ars Legendi-Preis für exzellente Hochschullehre.

Zugegeben, ich hadere mit dem Konzept des Inverted Classroom -- auch Flipped Classroom genannt. Meine Erfahrungen mit der Programmierausbildung von Informatik-Studierenden des 1. und 2. Semesters lassen mich zweifeln. Videos habe ich auch schon produziert, aber vor allem das selbstgesteuerte Lernen, die Vorbereitung der Studierenden _vor_ dem Präsenztermin, vor der Übung oder dem Praktikum, das will so gar nicht funktionieren.

Insofern bin ich froh und dankbar, dass Jürgen Handke heute Zeit für meine Fragen hat. Und schon in den ersten Minuten wird mit etwas sehr klar ...

Zuvor jedoch der Hinweis, dass ich nachfolgend auf eine Darstellung in Frage/Antwort-Form verzichte. Das würde dem Gespräch nicht gerecht werden. Ich will ihm auch nicht Worte unterschieben, dass er dies oder das gesagt habe. Ich versuche aus meiner Perspektive darzustellen, wie ich sein Konzept verstanden habe -- und ich lenke den Fokus auf das, was mir wichtig ist.

Inverted/Flipped Classroom als Methode


Formal kann man die Idee des Inverted Classroom abtrennen von Lehrinhalten und von den verwendeten Medienformen -- mit diesem Konsens begann unser Gespräch. Es ist eine Methode, die die Aufnahme von Wissen als vorbereitenden Anteil von den Studierenden einfordert. Die Präzenszeit mit den Lehrenden bleibt dann dem Einüben von Kompetenzen im weitesten Sinne vorbehalten. In der Präsenzzeit nimmt sich der Lehrende zurück, seine Rolle ist die eines Lernbegleiters. Damit scheiden frontale Formen in Übungseinheiten weitgehend aus, es wird auf kollaborative Formen gesetzt, der Studierende soll selber machen, denken, herausfinden, diskutieren, ausprobieren, aus Fehlern lernen, Erfolge habe. All das kann man mit Videos oder Büchern machen. Mit digitalen Plattformen oder Papier.

Der Ausgangspunkt: Das Workbook


Handke (er ist Anglistik-Professor) zeigt mir ein Workbook aus den Anfangstagen des Inverted Classrooms. Und schlagartig wird mir klar, dass ich sein Inverted Classroom bislang nicht verstanden habe, weil ich nicht gesehen hatte, welchen Aufwand und welches didaktische Bemühen er in diese Papierform seines Kurses gesteckt hat. Videos zur Vorbereitung, Lerncoaching im Classroom -- so einfach ist es nicht. Ein Workbook enthält den ganzen Stoff eines Kurses, eines Moduls; es enthält so viele Kapitel, Lerneinheiten, wie das Semester Vorlesungswochen hat. Die Lerneinheiten beginnen mit den Lernzielen. Der Lernstoff ist durchsetzt mit vielen kleineren Übungen, die dazu dienen das Gelesene zu verarbeiten, zu reflektieren, Wissen zu festigen. Dazu kommen zahlreiche Verweise auf Texte, Videos, Hörbeispiele. Eine Lerneinheit wird abgeschlossen von einem Satz an Aufgaben, "normale" Textaufgaben mit freiem Antwortteil. Die Aufgaben sind anspruchvoller und beziehen sich auf die Lerneinheit als Ganzes.

Schaut man sich so ein Workbook an, so ist da nichts an Stoffausdünnung zugunsten eines didaktischen Vorgehens zu sehen. Ein Credo der Didaktik ist ja immer wieder: eher weniger, denn zuviel an Stoff; eher Konzepte als denn Wissen. Nein, Handke mutet seinen Studierenden durchaus etwas zu! Kein Weichspülgang.

Das Workbook nimmt sich ernst


Wenn man so möchte, so liegt der methodische Ansatz des Inverted Classroom darin begründet, dass man die Funktion eines solchen Workbooks ernst nimmt: So vorzüglich aufbereiteten Lernstoff braucht man nicht im Hörsaal "vorzulesen". Lesen, Wissen erarbeiten, Aufgaben und Tests dazu machen, das kann jeder Studierende daheim tun. Also macht man in der Präsenzzeit das, was bleibt: die schwierigeren Aufgaben bearbeiten und besprechen, die den Stoff operationalisieren, in Zusammenhang stellen, erlernte Techniken einüben lassen usw.

Das Workbook wird digital und multimedial


Was Handke nun gemacht hat, ist, sich von dem Workbook in Papierform zu trennen und sich der Webtechnologie zu bedienen. Die äußere Organisationsstruktur der Lerneinheiten bleibt, doch der Inhalt des Workbooks wird deserialisiert und in eine verlinkte Textform überführt -- das Workbook wird zum Hypertext. Die Verweise auf Videos, Texte etc. werden zu eingebetteten Elementen, sie werden zum Content -- und beginnen das nun digitalisierte Workbook vollkommen zu verändern. Videos, Hörbeispiele etc. ergänzen nicht nur Inhalte, sie können selber Inhaltsträger sein. Aus dem Papiertext ist ein multimediales Dokument geworden.

Das Workbook wird interaktiv


Einmal im Web angekommen, ist es auch konsequent, das multimedial-digitale Workbook um interaktive Elemente anzureichern. Tests, Quizzes zur Wissensfestigung und -überprüfung im Verlauf einer Lerneinheit werden elektronisch integriert. Der Lernende bekommt sofort Rückmeldung. Und auch die Aufgaben, die eine Lerneinheit abschließen, sind nun webbasiert. Multiple Choice und was auch immer an elektronischer Wissensüberprüfung der Lerneinheit geeignet ist, kommt zum Einsatz. An dieser Stelle setzt Handke einen Abgriffspunkt: Sobald ein Studierender mindestens 60% der Aufgaben korrekt beantwortet, wandert diese Information in eine Datenbank.

Was bleibt: Kompetenztraining


Handke weiß also sehr genau, ob und wie gut seine Studierenden vorbereitet sind, wenn sie bei ihm in die Präsenzveranstaltung kommen. Und da gibt es kein Pardon. Jetzt geht es um Kompetenzbildung. Wissen wird mitgebracht -- und wer das nicht tut, bekommt die Konsequenzen rasch zu spüren. Die Studierenden haben die Aufgaben für den Präsenztermin vorzeitig bekommen; wer mochte, konnte sich darauf vorbereiten. In der Veranstaltung wird nun an den "schwierigen" Aufgaben gerarbeitet, den Aufgaben jenseits reinen Wissens. Manchmal eröffnet Handke die Veranstaltung mit Fragen, zu denen die Studierenden die Antworten mit Hilfe eines Audience Response Systems geben. Der Dialog, die Reflexion beginnt. Und am Ende wird es zu den Aufgaben sogar Musterlösungen geben.

Handke zeigt mir den Entwurf eines Artikels. Darin schreibt er, wie die Anwesenheit in der Präsenzphase deutlich mit dem Können von Kompetenzaufgaben korreliert. Wer die Gelegenheit nicht wahrnimmt, in die Übung zu kommen (es herrscht bei ihm keine Anwesenheitspflicht), der wird bei den "schwierigen" Aufgaben schlechter abschneiden. Bei reinen Wissensabfragen spielt die Anwesenheit kaum eine Rolle. Kurzum: Wissen kann man sich leicht und jederzeit reinpfeifen. Das Können, das Beherrschen eines Stoffs, Aufgabenstellungen lösen zu können, dazu braucht unser Gehirn Zeit, das muss sich setzen, verdrahten, Verhaltensänderung bewirken.

Lernt, wie es euch womit beliebt


So sehr Handke seinen Studierenden ernsthaftes Lernen abverlangt, was den Gebrauch digitaler Geräte betrifft, da treibt er sie mit seiner selbst entwickelten Lernplattform geradezu hin. Sollen sie doch per Smartphone, Tablett, Laptop nachgucken, nachlesen, Videos schauen was das Zeug hält. Schadet's, wenn so gelernt wird? Früher stellte Handke den Studierenden außerdem Austauschplattformen zur Verfügung: ein Diskussionsforum, ein Feedback-System, Chats, Wikis -- hat alles nicht funktioniert. Die Studierenden nutzen ihre eigenen Plattformen zur Kommunikation, dort sind sie bereits vernetzt: Facebook, WhatsApp und wie sie alle heißen. Und dort wo die Studierenden sind, folgt Ihnen Handke und sein Team: auf Facebook.

Auch will er keinem Studierenden vorschreiben, welchen Lernweg er oder sie zu nehmen hat. Gerade die digitale Form, die Inhaltsreplikation und -verweise auf mehreren Ebenen erlaubt, scheint von Vorteil zu sein. Aus Umfragen weiß er, dass manche Studierende fast ausschließlich mit den Videos lernen. Andere lernen fast ausschließlich über Texte -- das Workbook gibt es noch als eBook im epub2-Format. Manche orientieren sich an den Leitfragen, andere nicht. Handke erhebt Daten zu Forschungszwecken, er beginnt das digitale Lernen zu verstehen.

Und was ist mit der Klausur, der Abschlußprüfung? Da betritt Handke gerade Neuland. Auch die möchte er den Studierenden komplett am Rechner zu machen erlauben, rein mit Kompetenztests. Ein Experiment, ein Wagnis, von dem er noch nicht so recht weiß, wie es klappen wird.

Mein Resümee


Mir hilft sich in Erinnerung zu rufen, wo Handkes Ausgangspunkt liegt: bei ausgezeichnet aufbereiteten Lern-Materialien. Ohne Lernziele, Stoffinhalte (woher sie auch immer stammen mögen, Stichwort OER), Tests, Aufgaben wird es nichts mit dem Invertieren oder Flippen des Classrooms. Mit dieser Grundlage ist es konsequent, die Präsenzzeit mit den Studierenden für das Kompetenztraining zu verwenden. Die Digitalisierung? Na, wer kann, sollte es tun. Für Handke ist das vermutlich weniger trennbar als für mich, für ihn scheint der Eintritt ins Web, das Digitale entscheidend und transformierend zu sein.

Also: Zurück an den Schreibtisch, Handke zum Vorbild, sich wieder einmal an die Lernziele machen, Material zusammenstellen, Tests, Aufgaben überlegen. Der Rest wird sich finden.

Vielen Dank für das Gespräch und die Zeit, lieber Herr Handke!

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